Eine kurze Theorie des Glücklichseins
Ratgeber zum Thema Glücklichsein füllen die Auslagen des Buchhandels. Es scheint also einen nicht geringer Bedarf an guten Tipps zum Thema zu geben.
Doch das ist nicht der Grund für diesen Artikel. Die Gedanken darin sind mir während meiner inneren Einkehr zum Jahreswechsel gekommen.
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass wir uns Glücklichsein nicht als einen Dauerzustand vorstellen müssen. Den meisten wäre z.B. ein Mensch, der mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht bei einer Beerdigung oder auf einem Schlachtfeld auftaucht, eher verdächtig. Es gibt einfach äußere Umstände, die zumindest der landläufigen Vorstellung vom Glücklichsein zuwiderlaufen.
Viele finden jedoch Glück auch unter normalen und selbst unter “glücklichen” Umständen nicht. Es scheint es mir so, dass wir das Glück aktiv suchen müssen, dass die Rollen als “Arbeitnehmer” und “Konsument”, die uns die Gesellschaft drückt, nicht dazu da sind, unser persönliches Glück zu fördern.
Doch für Gesellschaftkritik ist in diesem Artikel kein Platz.
Lasst uns über Ziele reden.
Ziele
Ein Grund, warum Menschen sich Ziele setzen, ist, dass das Erreichen dieser Ziele Glücksmomente mit sich bringt. Oft speisen sich unsere Wünsche und Ambitionen aus einem empfundenen Mangel, aus einem Unwohlsein, von dem wir uns durch das Setzen und Erreichen von Zielen befreien wollen.
Wie alle wissen, die jemals ein selbst gestecktes Ziel erreicht haben, ist das mit diesem Erreichen verbundene Glück nicht permanent. Das ist auch überhaupt nicht tragisch, denn es gibt eine unendlich große Menge von möglichen Zielen, und wenn wir eines erreicht und den damit verbundenen Glücksmoment genossen haben, können wir uns einfach ein neues setzen.
Aber es gibt einen vielleicht noch wichtigeren Grund, warum das Hinarbeiten auf Ziele eine glückssteigernde Wirkung hat.
Inneres Wachstum durch ambitionierte Ziele
Zumeist steht die Intensität des empfundenen Glücks in einem proportionalen Verhältnis zur Größe des gesteckten Ziels. Morgens aufzustehen und Kaffee zu kochen mag als Ziel zwar vielleicht einen kurzen Moment der Freude auslösen (interessanterweise scheint bei mir allein der Vorgang des Wegstreichens eines noch so trivialen Punktes auf meiner Todo-Liste bereits eine kurze, geringe, aber durchaus spürbare Endorphinausschüttung zu bewirken), doch für einen richtigen Kick braucht es ambitioniertere Ziele.
Ambitionierte Ziele erfordern immer eine Portion Mut. Sonst wären sie nicht ambitioniert. Wer sich daran macht, ein ambitioniertes Ziel zu erreichen, wird mit Ängsten konfrontiert und muss unter Umständen Dinge tun, die er vorher vielleicht nie zu tun gewagt hätte. Er muss gewissermaßen ein anderer Mensch werden.
Während solcher Transformationsprozesse erleben wir uns selbst und die Welt intensiver. Das Glück, dass ich empfinde, wenn ich mich einer alten Angst gestellt und Mut bewiesen habe, ist um vieles größer als das Glück, dass ich empfinde, wenn ich es morgens schaffe, meine Espressomaschine zu bedienen.
Im Hinblick auf das Glücklichsein lohnt es sich also, “nach Höherem zu streben”. Nicht unbedingt um des unmittelbaren Zieles, sondern vor allem um eines intensiveren Lebens Willen.
Gibt es permanentes Glück vielleicht doch?
Aber offenbar gibt es noch eine dritte Quelle des Glücks.
Wenn man den unzähligen weisen Männern und Frauen glauben schenkt, die uns seit Tausenden von Jahren ermahnen, unser Glück im Erkennen des perfekten Wesens zu suchen, das wir in unserem tiefsten Innnern bereits sind, ganz gleich, welchen Mangel wir auf anderen Ebenen spüren, dann gibt es in uns eine Quelle des Glücks, die uns nicht erst bei Erreichen eines großen äußeren Ziels, nicht nur in den exaltierten Momenten großer Wagnisse und Transformationen, sondern immer, während jeder Sekunde unseres Lebens zur Verfügung steht.
Wie erkennt man diese innere Quelle des Glücks? Nun, ich würde mich nicht gerade als erleuchtet bezeichnen, aber einige Ideen dazu habe ich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - schon.
Sei aufmerksam
Schau öfter mal nach innen
Suche Orte abseits des Mainstreams
Suche die Gemeinschaft und auch die Einsamkeit
Beschäftige Dich mit komplexen Themen
Jeder dieser Punkte wäre einen eigenen Artikel wert, aber dann wäre dies hier keine kurze Theorie des Glücks mehr, sondern eine lange. Dann sollte ich vielleicht auch einen Ratgeber schreiben, der dann die Auslagen des Buchhandels verstopft.
Stattdessen möchte ich einfach allen, die sich für 2019 größere, kleinere oder gar keine Ziele gesetzt haben, viel Glück wünschen.
Talent - von der Suche nach einem Phantom
[Dies ist ein Repost eines Artikels, den ich vor ein paar Jahren für einen Blog schrieb, der inzwischen nicht mehr online ist. Ich fand ihn aber zu schade zum Wegwerfen.]
Die Frage
Eine der Fragen, die mir während meiner Zeit als Gitarrenlehrer am häufigsten gestellt wurden, lautete: “Hat mein Kind Talent?” Oft schob das besorgte Elternteil noch die Information nach, dass das Kind nie freiwillig übe. Wenn ich Fremden erzählte, was ich beruflich tat, hörte ich oft Sätze wie “Ach, Gitarre wollte ich schon immer lernen, aber ich habe für so etwas leider überhaupt kein Talent.”
Es scheint so, als machten die meisten Menschen sehr viel von dieser vagen Sache abhängig. Ich selbst gehöre nicht zu diesen Menschen. Genauer gesagt beschleicht mich das Gefühl, dass der Begriff Talent nicht das musikalische Potenzial eines Menschen beschreibt, sondern in Wirklichkeit eine ganz andere Funktion hat.
Talent ist wie ein Phantom. Es lässt es sich nicht greifen, nicht wissenschaftlich erfassen. Und doch sprechen die meisten von uns, wenn wir jemanden sehen, der eine Sache extrem gut beherrscht, von einem großen Talent, oft bezeichnen wir diese Leute auch als Genies. Der von vielen als ein solches bezeichnete Erfinder Thomas Edison hat Genie einmal als 1% Inspiration und 99% Schweiß definiert. Wir kennen alle das Sprichwort “Übung macht den Meister.” Doch glauben wir das wirklich? Halten wir Edisons Worte nicht vielleicht doch für eine charmante Untertreibung?
Ein kleiner Selbstbetrug ist besser als ein großer
Wenn ich den Traum habe, Gitarre spielen zu lernen, aber nicht damit anfange, befinde ich mich in einem Zwiespalt. Sich einen Traum zu erfüllen bedeutet Glück zu erfahren. Wenn ich mir also diesen Traum nicht erfülle, sollte ich dafür sehr gute Gründe haben. Vielleicht spüre ich, dass meine Gründe in Wirklichkeit nicht besonders gut sind. Wenn ich mir einrede, “kein Talent zu haben,” ist das zwar nicht besonders schmeichelhaft, aber häufig doch einfacher, als mir noch unangenehmere Fragen danach zu stellen, was ich in meinem Leben wirklich erreichen will.
Wenn sich Eltern nach dem Talent ihres Kindes erkundigen, das nicht üben will, tun sie das, wie ich glaube, aus Ratlosigkeit. Das, was dem Kind fehlt, ist nicht Talent, sondern Begeisterung. Begeisterung ist der vielleicht wichtigste Faktor für Erfolg. Allerdings ist sie nicht direkt steuerbar. Niemand weiß, wann – und ob überhaupt – der Funke überspringt. Bei vielen ist die Begeisterung vom ersten Moment an da. Bei mir selbst war das jedoch nicht so. Ich schleppte mich zwei Jahre lang eher lustlos zum Gitarrenunterricht. Dann klickte es eines Tages, und die Lustlosigkeit war der Begeisterung gewichen. Seitdem haben mir eine Menge Leute “Talent” bescheinigt.
Von den wahrscheinlich über 1000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die ich unterrichtet habe, habe ich bei keinem ein musikalisches Talent feststellen können. Aber für ein Phänomen habe ich zahllose Belege. Diejenigen, die sich viel mit der Materie beschäftigten, sind schnell besser geworden, diejenigen, die das nicht taten, sehr viel langsamer.
Und solange sich musikalisches Können dadurch erklären lässt, werde ich dem Phantom Talent auch weiterhin keine Bedeutung beimessen. Ja, um einer klareren und zielführenderen Sicht auf die Entwicklung menschlichen Potenzials Willen plädiere ich für die Streichung des Begriffs aus dem menschlichen Wortschatz.
Von Rockstars, Enden und Anfängen
Es ist wohl nur ein trauriger Zufall. Einen Tag bevor dieser Blog, in dem ich in erster Linie meine Musik vorstellen möchte, online gehen sollte, ist eines der Idole meiner Jugend, Chris Cornell, gestorben. In Detroit, der Stadt, wo vor drei Wochen meine Nichte geboren wurde. Aber Zufall ist langweilig und sinnlos. Und was wir alle suchen ist Sinn. Darum werde ich versuchen, ein bisschen Sinn zu konstruieren. Und darum sind diese Gedanken Chris und Charlotte gewidmet.
Jugendträume
Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich Chris Cornell zum ersten Mal sah und hörte. Es war zur Zeit meines Zivildienstes. Mit meiner Aufgabe, einen doppelt beinamputierten Schlaganfallpatienten, der überdies nicht sprechen konnte, allein zu pflegen und zu betreuen, war ich hoffnungslos überfordert. Abgesehen davon, dass ich nicht wirklich wusste, was ich tun sollte, passten die Krankheit und das Leiden, deren Zeuge ich wurde, so überhaupt nicht zu meinen Träumen von Freiheit und Abenteuer, die ich, nachdem ich die Schulzeit abgesessen hatte, jetzt endlich verwirklichen wollte. Ich wollte Rockstar werden. Was machte ich hier?
Während einem der wenigen ruhigeren Momente schaltete ich den Fernseher an und blieb beim Zappen auf MTV hängen. Was ich hörte war Krach. Ein markerschütternder und aufpeitschender Krach, der nach einer Minute zuerst in ein dunkel-treibendes Riff und dann in einen Rausch von einem Song mündete, mit einer Stimme, die extremer war, als als alle Stimmen, die ich bis dahin gehört hatte.
Damals hatte ich noch keine Ambitionen als Sänger, sondern übte pausenlos Gitarre, um meine Rockstarambitionen als Instrumentalist verwirklichen zu können. Hauptsächlich war es der chronische Mangel an akzeptabel singenden Mitmusikern, der mich in den frühen 90ern dazu brachte, es auch einmal mit der Stimme als Instrument zu versuchen. Das erforderte Mut. Wenn Du singst, kannst Du es nicht vermeiden, einen Teil Deines Innersten zu offenbaren. Damit habe ich selbst heute noch Probleme. Damals waren meine Schüchternheit und Unsicherheit fast unüberwindbar.
Dass ich damals Bands wie Nirvana und Red Hot Chili Peppers entdeckte, war ein Glück. Diese Bands hatten völlig unvirtuose Sänger, und so war es selbst mir möglich, die Songs zu singen und dabei nicht wie ein Vollidiot rüberzukommen (naja, vielleicht ist Letzteres nur Einbildung).
Cornell spielte in einer anderen Liga. Er und später Jeff Buckley waren Sänger, deren Songs ich rauf- und runtergecovered hätte, wäre meine Stimme nur dazu in der Lage gewesen. Was hätte ich damals dafür gegeben, einem Publikum einen Song wie Jesus Christ Pose vor den Latz knallen zu können, ihm eine Packung purer Magie zu verabreichen, wie es nur Leute können, deren Ausdrucksmöglichkeiten nicht von mangelnder Technik gehemmt werden. Was Steve Vai auf der Gitarre für mich war, war Chris Cornell als Sänger: einer, für den sein Instrument nicht Fitnessstudio oder Kampfzone, sondern ein Spielplatz war.
Das Ende der Rockstars
Mit der Musik Chris Cornells verbinde ich noch viele andere persönliche Erinnerungen. Aber seitdem ich von seinem Tod las, sind auch allgemeinere Gedanken aufgetaucht.
Als vor einige Jahren die Online-Musikdistribution zum Mainstream wurde und die meisten Menschen - mich eingeschlossen - aufhörten CDs zu kaufen, läutete das das Ende des Musik-Albums als Format ein. Ich war damals vermutlich nicht der einzige, dem die Idee kam: wenn sich fast niemand mehr Alben kauft, gibt es für die großen Labels keinen Grund mehr, in die Karrieren von Musikern zu investieren. Songs gibt es wie Sand am Meer und gutaussehende Menschen, die singen können, lassen sich auch immer finden. Ein gutes Album zu produzieren ist hingegen aufwändig. Musiker müssen einige Jahre reifen, bevor sie Musik schreiben, die relevant ist. Und Labels brauchen einen finanziellen Anreiz, um Musiker über Jahre hinweg weltweit zu promoten. Dieser Anreiz ist weg. Ergo: es wird bald keine Rockstars mehr geben.
Heute Nachmittag scheint es mir so, als ob dieser Prozess geradezu unnatürlich schnell vonstatten gehen würde. Das letzte Jahr hat beinahe die halbe Rock ‘n’ Roll Hall of Fame hinweggerafft, und seit gestern gibt es einen weiteren Rockstar weniger. Getreu dem alten Klischee von den am hellsten strahlenden Lichtern, die am frühsten ausbrennen, scheint es der Rock eiliger damit zu haben als der Jazz, eine historische Musik zu werden.
Was kommt danach?
Die Ära der Rockstars hat uns viel großartige Musik beschert. Und doch basierte sie auf einem irgendwie ungesunden System der Umwandlung von Jugendträumen in Konzernprofite. Das Internet hat dieses System zerstört und uns ein neues, besseres System versprochen, in dem Musiker und Publikum ohne den Umweg über mächtige Gatekeeper zueinander finden können. Heute scheint es, als ob das Internet als kommerzielle Plattform eine Maschine der Machtkonzentration geworden ist. Bandcamp, Soundcloud und Co sind ok, aber “so richtig” wird Musik fast nur noch über Spotify, Amazon und Apple verkauft. Dort haben Algorithmen die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu steuern. Und die Algorithmen dienen NICHT der Musik. Sie dienen dem Verkauf.
Und dennoch gibt es auch heute sehr viel gute Musik. Sie wird von Menschen gemacht, die zum Teil eine riesige Menge Arbeit investieren, um irgendwie davon leben zu können. Genauso wie zu allen Zeiten. Das Versprechen von Ruhm und ausverkauften weltweiten Tourneen jedoch verblasst.
Gestern ist Chris Cornell viel zu früh gestorben. Thanks, Chris, for bleeding your heart out in your music. An alle anderen, und an Charlotte, die ganz neu hier ist: Lasst uns zusammen Musik machen. Die Welt braucht das heute vielleicht mehr als je zuvor.