Visualisieren, Imaginieren, Manifestieren, Jubilieren
Visualisierung gilt als effektives Werkzeug für “fortgeschrittene” Musiker. Als ich zum ersten Mal mit dem Konzept konfrontiert wurde, hatte ich schon einige Jahre mehr oder weniger erfolgreich versucht, ein “fortgeschrittener” Gitarrist zu werden. Meine ersten Versuche mit dem Visualisieren, waren ziemlich erfolglos, und so gab ich die Sache bald wieder auf.
Irgendwann bemerkte ich, dass ich Visualisierung durchaus anwendete, und zwar beim Üben von Tonleitern und Akkordmustern. Das Gitarrengriffbrett lädt geradezu dazu ein, in visuellen Mustern zu denken, und so lernte auch ich mein musikalisches Material auf diese Weise. Was ich jedoch niemals bewusst tat, war mich selbst beim Spielen zu visualisieren.
Noch viel später kam ich in Kontakt mit den Ideen des “New Thought”, welcher heute vor allem unter den Labels positives Denken und Selbsthilfeliteratur bekannt ist und von den meisten Intellektuellen mit einem nicht geringen Maß an Verachtung bedacht wird. Die Vertreter von New Thought behaupten, Gedanken würden sich durch die Vorstellungskraft manifestieren, d.h., in Realität verwandeln.
In diesem Artikel möchte ich anhand von Zitaten dreier glühender Befürworter der Visualisierungtechnik eine andere Art zu üben beschreiben. Zwei meiner Protagonisten, Juha Keränen und Steve Vai sind Gitarristen, der dritte, Neville Goddard, war ein Mystiker. Der Artikel ist kein Versuch, die Philosophien dieser Menschen komplett zu erfassen. Ich habe mir lediglich einige Ideen rausgepickt, um Parallelen zu zeigen.
No-Bullshit-Visualisierung
Die konkreteste Anleitung zum Visualisieren habe ich beim finnischen Multiinstrumentalisten Juha Keränen gefunden. Laut seinen eigenen Worten ist er
“Just a nobody who figured out a way to get where he wanted with the minimum amount of effort.”
Minimaler Aufwand – das hört sich schonmal sehr gut an.
Seine Methode hat er durch das Lesen in Internetforen und durch Ausprobieren entwickelt. Sie besteht aus drei Schritten:
- Entspannung
- Visualisierung
- Loslassen
Entspannung
Juha sieht Entspannung als Voraussetzung für das schnelle Lernen auf der Gitarre, und all meine Erfahrung aus 30 Jahren Gitarrespielen sowie 12 Jahren Alexandertechnik-Studium sagt mir: er hat Recht, und zwar in einem Maße, wie es sich die allermeisten Menschen noch nicht mal vorstellen können.
Eine gute Koordination ist Voraussetzung für eine gute Technik, und unnötige muskuläre Anspannung macht eine gute Koordination so ziemlich unmöglich. Die Themen Entspannung und Koordination sind zu umfassend, um sie in diesem Artikel angemessen zu würdigen. Interessierte möchte ich auf meine Alexandertechnik Website verweisen.
Visualisierung
Für Juha ist Visualisierung die effektivste Übetechnik überhaupt. Er schlägt vor, sich selbst beim Spielen einer bestimmten Passage vorzustellen. Dabei ist es wichtig, dass man in der Vorstellung präzise und vollkommen mühelos spielt. Das Tempo spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass man die verschiedenen Bewegungen in seiner Vorstellung untersucht, verfeinert und mit einem Gefühl völliger Entspannung und Souveränität verbindet.
Irgendwann spielt man die Passage dann tatsächlich, ohne dabei jedoch das Gefühl der Entspannung zu verlieren (Dass das Gefühl der Entspannung eine trügerische Angelegenheit sein kann, habe ich auch durch mein Alexandertechnikstudium erfahren müssen). Das konkrete Ergebnis wird wahrscheinlich nicht dem imaginierten entsprechen, worauf es nun wichtig ist, die Gründe für die Unterschiede zu finden und die Vorstellung entsprechend anzupassen. Erst wenn man einen neuen Plan entworfen und mental geübt hat, kommt der nächste konkrete Versuch.
Loslassen
Loslassen ist für Juha wichtig, weil wir, wenn wir zu viel emotional in unseren Wunsch gute Gitarristen zu werden, investieren, allzu schnell negative Gefühle entwickeln, und diese negativen Gefühle sich negativ auf unseren Fokus auswirken.
Und Fokus ist essenziell.
Dabei hat Juha eine gänzlich unspirituelle Sichtweise auf Visualisierung.
Das kann man von Steve Vai nicht behaupten.
Stell Dir vor, Du wärst in Frank Zappas Band
Steve Vai ist wahrlich kein “nobody”. In seinem bei truefire.com erhältlichen Videokurs widmet er ein ganzes Segment einem Prozess, den er “3 Step Manifestation” nennt. Steve ist sich sicher, dass dieser Prozess für alles im Leben funktioniert, u.a. für das Gitarrespielen Lernen.
Der Prozess geht so:
Schritt eins – Du musst etwas wirklich wollen
Du musst etwas wirklich wollen. Das ist gar nicht so einfach wie es klingt. Steve ermahnt uns, dass hinter dem, was wir glauben zu wollen, oft etwas ganz anderes steckt. Hinter dem Wunsch, ein fantastischer Gitarrist zu werden, steckt z.B. sehr oft ein Mangel an Selbstvertrauen, Anerkennung und Liebe. Wir müssen lernen, ehrlich mit uns selbst zu sein. “Weltlicher Erfolg” ist für Steve zumeist nur ein Nebenprodukt der Arbeit an einer tiefen Leidenschaft.
Schritt zwei – Visualisiere!
Wie für Juha ist auch für Steve Visualisieren wichtiger als alles andere, was Du auf der Gitarre tun kannst. Du kannst nur erreichen, was Du glaubst erreichen zu können. Er rät uns, in unserer Vorstellung ein klares Bild von uns zu entwickeln, wie wir die Passage oder Technik, die wir uns wünschen zu beherrschen, ausführen. Wie ein Bildhauer mit einem Meißel müssen wir dieses Bild entwickeln, und wie ein Bildhauer werden wir durch Übung besser darin.
Schritt drei - Erlauben
Schritt drei besteht darin zu erlauben, dass sich unsere Visualisierung manifestiert.
Wie machen wir das?
Wir müssen uns mit unserer Vision in Einklang bringen. Das tun wir, indem wir unseren Enthusiasmus kultivieren, indem wir jeden kleinsten Erfolg auf dem Weg dahin als Sieg und als Quell großer Freude empfinden. Dadurch wird der Prozess ins Rollen gebracht. Unsere Einstellung gegenüber unserem Ziel ist das A und O.
Steve fügt hinzu:
“Whatever you really really want, you’ll get.
Whatever you really really don’t want you’ll get.
That’s not my theory, that’s just the law of the universe.”
Das Gesetz des Universums? Geht es hier vielleicht um mehr als um Gitarrespielen?
Der Mystiker
Auf Neville Goddard bin ich durch die Lektüre von “One Simple Idea” von Mitch Horowitz gestoßen. Die zentrale Idee des New Thought, dass sich unsere Gedanken über den Weg der Vorstellung in Realität verwandeln können, war mir schon lange durch verschiedene andere Autoren bekannt gewesen. Kein anderer mir bekannte Autor oder Redner in diesem Bereich jedoch drückt sich so präzise, elegant und poetisch aus wie Neville. Ich hoffe, dass meine Versuche, ihn hier auf Deutsch zu paraphrasieren, dem zumindest ein wenig Rechnung tragen.
Für Neville ist Bewusstsein der Verursacher sowie die Substanz der Welt:
“Consciousness is the one and only reality.”
Er postuliert: Das Bewusste übt Eindruck auf das Unterbewusste aus. Das Unterbewusste bringt alle Eindrücke zum Ausdruck. Alles, was das Bewusste als wahr empfindet, wird vom Unterbewussten zum Ausdruck gebracht. Durch seine Fähigkeit sich Dinge vorzustellen und sie zu fühlen und durch seine Freiheit, die Gegenstände seiner Vorstellung selbst auszuwählen, hat der Mensch Kontrolle über die Schöpfung.
Kontrolle über das Unterbewusste wird also indirekt über die Kontrolle über unsere Ideen und Gefühle erreicht. Kontrolle will Neville jedoch nicht als das Unterdrücken negativer Gefühle verstanden wissen, sondern vielmehr als die Disziplinierung des Selbst, solche Gedanken und Gefühle hegen zu können, die unserem Glück zuträglich sind.
Können wir so unsere Ideen und Gefühle “kontrollieren”? Ich denke, das Stichwort hier ist “Disziplinierung”. Disziplin brauchen wir, wenn wir eine neue Idee kultivieren wollen. Je mehr die neue Idee unseren alten Ideen widerspricht, desto mehr Disziplin brauchen wir für den Prozess der Kultivierung. Und wie so ziemlich alle anderen mentalen Fähigkeiten kann auch Disziplin geübt und kultiviert werden.
“Do not dwell on the imperfection of yourself or others. To do so is to impress the subconscious with these limitations. What you do not want done unto you do not feel that it is done unto you or to another. This is the whole law of a full and happy life. Everything else is commentary.”
Kein Fazit
Ich hoffe, dieser Artikel hat ein wenig zum Nachdenken, Recherchieren oder vielleicht sogar zum Ausprobieren angeregt. Mein Fazit jedenfalls ist noch lange nicht gezogen.