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Von Rockstars, Enden und Anfängen

Mein erster Post. Über das Ende einer Ära und den Anfang einer neuen.
Veröffentlicht am 19.05.2017, ungefähr 900 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 5 Minute(n).
Tags: #musik #essay #video

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Es ist wohl nur ein trauriger Zufall. Einen Tag bevor dieser Blog, in dem ich in erster Linie meine Musik vorstellen möchte, online gehen sollte, ist eines der Idole meiner Jugend, Chris Cornell, gestorben. In Detroit, der Stadt, wo vor drei Wochen meine Nichte geboren wurde. Aber Zufall ist langweilig und sinnlos. Und was wir alle suchen ist Sinn. Darum werde ich versuchen, ein bisschen Sinn zu konstruieren. Und darum sind diese Gedanken Chris und Charlotte gewidmet.

Jugendträume

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich Chris Cornell zum ersten Mal sah und hörte. Es war zur Zeit meines Zivildienstes. Mit meiner Aufgabe, einen doppelt beinamputierten Schlaganfallpatienten, der überdies nicht sprechen konnte, allein zu pflegen und zu betreuen, war ich hoffnungslos überfordert. Abgesehen davon, dass ich nicht wirklich wusste, was ich tun sollte, passten die Krankheit und das Leiden, deren Zeuge ich wurde, so überhaupt nicht zu meinen Träumen von Freiheit und Abenteuer, die ich, nachdem ich die Schulzeit abgesessen hatte, jetzt endlich verwirklichen wollte. Ich wollte Rockstar werden. Was machte ich hier?

Während einem der wenigen ruhigeren Momente schaltete ich den Fernseher an und blieb beim Zappen auf MTV hängen. Was ich hörte war Krach. Ein markerschütternder und aufpeitschender Krach, der nach einer Minute zuerst in ein dunkel-treibendes Riff und dann in einen Rausch von einem Song mündete, mit einer Stimme, die extremer war, als als alle Stimmen, die ich bis dahin gehört hatte.

Damals hatte ich noch keine Ambitionen als Sänger, sondern übte pausenlos Gitarre, um meine Rockstarambitionen als Instrumentalist verwirklichen zu können. Hauptsächlich war es der chronische Mangel an akzeptabel singenden Mitmusikern, der mich in den frühen 90ern dazu brachte, es auch einmal mit der Stimme als Instrument zu versuchen. Das erforderte Mut. Wenn Du singst, kannst Du es nicht vermeiden, einen Teil Deines Innersten zu offenbaren. Damit habe ich selbst heute noch Probleme. Damals waren meine Schüchternheit und Unsicherheit fast unüberwindbar.

Dass ich damals Bands wie Nirvana und Red Hot Chili Peppers entdeckte, war ein Glück. Diese Bands hatten völlig unvirtuose Sänger, und so war es selbst mir möglich, die Songs zu singen und dabei nicht wie ein Vollidiot rüberzukommen (naja, vielleicht ist Letzteres nur Einbildung).

Cornell spielte in einer anderen Liga. Er und später Jeff Buckley waren Sänger, deren Songs ich rauf- und runtergecovered hätte, wäre meine Stimme nur dazu in der Lage gewesen. Was hätte ich damals dafür gegeben, einem Publikum einen Song wie Jesus Christ Pose vor den Latz knallen zu können, ihm eine Packung purer Magie zu verabreichen, wie es nur Leute können, deren Ausdrucksmöglichkeiten nicht von mangelnder Technik gehemmt werden. Was Steve Vai auf der Gitarre für mich war, war Chris Cornell als Sänger: einer, für den sein Instrument nicht Fitnessstudio oder Kampfzone, sondern ein Spielplatz war.

Das Ende der Rockstars

Mit der Musik Chris Cornells verbinde ich noch viele andere persönliche Erinnerungen. Aber seitdem ich von seinem Tod las, sind auch allgemeinere Gedanken aufgetaucht.

Als vor einige Jahren die Online-Musikdistribution zum Mainstream wurde und die meisten Menschen - mich eingeschlossen - aufhörten CDs zu kaufen, läutete das das Ende des Musik-Albums als Format ein. Ich war damals vermutlich nicht der einzige, dem die Idee kam: wenn sich fast niemand mehr Alben kauft, gibt es für die großen Labels keinen Grund mehr, in die Karrieren von Musikern zu investieren. Songs gibt es wie Sand am Meer und gutaussehende Menschen, die singen können, lassen sich auch immer finden. Ein gutes Album zu produzieren ist hingegen aufwändig. Musiker müssen einige Jahre reifen, bevor sie Musik schreiben, die relevant ist. Und Labels brauchen einen finanziellen Anreiz, um Musiker über Jahre hinweg weltweit zu promoten. Dieser Anreiz ist weg. Ergo: es wird bald keine Rockstars mehr geben.

Heute Nachmittag scheint es mir so, als ob dieser Prozess geradezu unnatürlich schnell vonstatten gehen würde. Das letzte Jahr hat beinahe die halbe Rock ‘n’ Roll Hall of Fame hinweggerafft, und seit gestern gibt es einen weiteren Rockstar weniger. Getreu dem alten Klischee von den am hellsten strahlenden Lichtern, die am frühsten ausbrennen, scheint es der Rock eiliger damit zu haben als der Jazz, eine historische Musik zu werden.

Was kommt danach?

Die Ära der Rockstars hat uns viel großartige Musik beschert. Und doch basierte sie auf einem irgendwie ungesunden System der Umwandlung von Jugendträumen in Konzernprofite. Das Internet hat dieses System zerstört und uns ein neues, besseres System versprochen, in dem Musiker und Publikum ohne den Umweg über mächtige Gatekeeper zueinander finden können. Heute scheint es, als ob das Internet als kommerzielle Plattform eine Maschine der Machtkonzentration geworden ist. Bandcamp, Soundcloud und Co sind ok, aber “so richtig” wird Musik fast nur noch über Spotify, Amazon und Apple verkauft. Dort haben Algorithmen die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu steuern. Und die Algorithmen dienen NICHT der Musik. Sie dienen dem Verkauf.

Und dennoch gibt es auch heute sehr viel gute Musik. Sie wird von Menschen gemacht, die zum Teil eine riesige Menge Arbeit investieren, um irgendwie davon leben zu können. Genauso wie zu allen Zeiten. Das Versprechen von Ruhm und ausverkauften weltweiten Tourneen jedoch verblasst.

Gestern ist Chris Cornell viel zu früh gestorben. Thanks, Chris, for bleeding your heart out in your music. An alle anderen, und an Charlotte, die ganz neu hier ist: Lasst uns zusammen Musik machen. Die Welt braucht das heute vielleicht mehr als je zuvor.

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