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Talent - von der Suche nach einem Phantom

Was die meisten für den entscheidenden Faktor beim Erlernen eines Instruments halten, existiert vielleicht gar nicht.
Veröffentlicht am 12.12.2017, ungefähr 600 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 3 Minute(n).
Tags: #musik #essay

Ein Supertalent

[Dies ist ein Repost eines Artikels, den ich vor ein paar Jahren für einen Blog schrieb, der inzwischen nicht mehr online ist. Ich fand ihn aber zu schade zum Wegwerfen.]

Die Frage

Eine der Fragen, die mir während meiner Zeit als Gitarrenlehrer am häufigsten gestellt wurden, lautete: “Hat mein Kind Talent?” Oft schob das besorgte Elternteil noch die Information nach, dass das Kind nie freiwillig übe. Wenn ich Fremden erzählte, was ich beruflich tat, hörte ich oft Sätze wie “Ach, Gitarre wollte ich schon immer lernen, aber ich habe für so etwas leider überhaupt kein Talent.”

Es scheint so, als machten die meisten Menschen sehr viel von dieser vagen Sache abhängig. Ich selbst gehöre nicht zu diesen Menschen. Genauer gesagt beschleicht mich das Gefühl, dass der Begriff Talent nicht das musikalische Potenzial eines Menschen beschreibt, sondern in Wirklichkeit eine ganz andere Funktion hat.

Talent ist wie ein Phantom. Es lässt es sich nicht greifen, nicht wissenschaftlich erfassen. Und doch sprechen die meisten von uns, wenn wir jemanden sehen, der eine Sache extrem gut beherrscht, von einem großen Talent, oft bezeichnen wir diese Leute auch als Genies. Der von vielen als ein solches bezeichnete Erfinder Thomas Edison hat Genie einmal als 1% Inspiration und 99% Schweiß definiert. Wir kennen alle das Sprichwort “Übung macht den Meister.” Doch glauben wir das wirklich? Halten wir Edisons Worte nicht vielleicht doch für eine charmante Untertreibung?

Ein kleiner Selbstbetrug ist besser als ein großer

Wenn ich den Traum habe, Gitarre spielen zu lernen, aber nicht damit anfange, befinde ich mich in einem Zwiespalt. Sich einen Traum zu erfüllen bedeutet Glück zu erfahren. Wenn ich mir also diesen Traum nicht erfülle, sollte ich dafür sehr gute Gründe haben. Vielleicht spüre ich, dass meine Gründe in Wirklichkeit nicht besonders gut sind. Wenn ich mir einrede, “kein Talent zu haben,” ist das zwar nicht besonders schmeichelhaft, aber häufig doch einfacher, als mir noch unangenehmere Fragen danach zu stellen, was ich in meinem Leben wirklich erreichen will.

Wenn sich Eltern nach dem Talent ihres Kindes erkundigen, das nicht üben will, tun sie das, wie ich glaube, aus Ratlosigkeit. Das, was dem Kind fehlt, ist nicht Talent, sondern Begeisterung. Begeisterung ist der vielleicht wichtigste Faktor für Erfolg. Allerdings ist sie nicht direkt steuerbar. Niemand weiß, wann – und ob überhaupt – der Funke überspringt. Bei vielen ist die Begeisterung vom ersten Moment an da. Bei mir selbst war das jedoch nicht so. Ich schleppte mich zwei Jahre lang eher lustlos zum Gitarrenunterricht. Dann klickte es eines Tages, und die Lustlosigkeit war der Begeisterung gewichen. Seitdem haben mir eine Menge Leute “Talent” bescheinigt.

Von den wahrscheinlich über 1000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die ich unterrichtet habe, habe ich bei keinem ein musikalisches Talent feststellen können. Aber für ein Phänomen habe ich zahllose Belege. Diejenigen, die sich viel mit der Materie beschäftigten, sind schnell besser geworden, diejenigen, die das nicht taten, sehr viel langsamer.

Und solange sich musikalisches Können dadurch erklären lässt, werde ich dem Phantom Talent auch weiterhin keine Bedeutung beimessen. Ja, um einer klareren und zielführenderen Sicht auf die Entwicklung menschlichen Potenzials Willen plädiere ich für die Streichung des Begriffs aus dem menschlichen Wortschatz.

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