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Gearlust kurieren

Als Medizin bei akuter Gearlust hilft ein bisschen Nachdenken
Veröffentlicht am 12.06.2017, ungefähr 800 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 4 Minute(n).
Tags: #idee #lebenshilfe #technikkritik

Ein unter Musikern, vor allem solchen, die sich auch für die technische Seite der Musikproduktion interessieren, sehr verbreitetes Phänomen ist das drängende Bedürfnis, sein sauer verdientes Geld, sobald man ein wenig davon angespart hat, für ein neues Instrument, Mikrofon, Effektgerät, Audio Interface, einen Computer, Computersoftware etc.pp. auszugeben. Da man aber keine Fehlinvestition tätigen möchte, geht dem Einkauf eine obsessive Internetrecherche voraus, während der man jedes noch so kleine Review des begehrten Objekts intensiv studiert, technische Spezifikationen auswendig lernt und tagelang die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen abwägt. Im Englischen gibt es für dieses Verhalten den treffenden Begriff Gearlust.

Da ich in den letzen Tagen mal wieder von Gearlust gepeinigt wurde, habe ich mir ein paar Gedanken zum Thema gemacht. Daraus ist folgende, zugegebenermaßen vollkommen unwissenschaftliche Grafik entstanden, in der ich die Bedeutung verschiedener Faktoren für das Zustandekommen einer gelungenen Musikaufnahme anteilig aufgeschlüsselt habe. Obwohl ich mir die prozentuale Verteilung der einzelnen Aspekte ausgedacht habe, basieren die Werte doch auf einer Menge Erfahrung, die ich im Lauf der Jahre als Musiker, Hobbyproduzent und Programmierer machen durfte. Das Diagramm bezieht sich auf handgemachte, auf akustischen Instrumenten gespielte Musik.

Erfolgsfaktoren einer Musikaufnahme

Anmerkungen

Ich habe nur solche Aspekte aufgelistet, die man als Musikproduzent auch beeinflussen kann. Darum fehlt in dem Diagramm der vielleicht wichtigste Faktor, nämlich die Erwartungen der Zuhörer. Abgesehen von der Erwartungshaltung des Publikums sind die mit Abstand wichtigsten Komponenten einer Aufnahme das, was man spielt, und wie man es spielt. Und so sollte man sich klar machen, dass die Zeit, die man bei der Internetrecherche über irgendeine technische Komponente verbringt, so gut wie immer besser in die Beschäftigung mit dem Instrument oder dem Repertoire angelegt ist.

Selbstverständlich ist ein gutes Instrument wichtig. Dabei spielt der eigentliche Klang meiner Meinung nach noch nicht einmal die entscheidende Rolle. Noch wichtiger ist der Einfluss, den ein gut klingendes und gut bespielbares Instrument auf das Wohlbefinden und damit auf die Performance haben kann. Doch es gibt auch eine Menge Geschichten, die selbst dieser Selbstverständlichkeit zu widersprechen scheinen. Spontan fällt mir eine Anekdote ein, die Kenny Werner in seinem Buch Effortless Mastery erzählt. Er schreibt von der Geburtstagsparty eines befreundeten Pianisten, bei der auch Bill Evans eingeladen war. Das Klavier im Wohnzimmer des Hauses klang nach Werners Geschmack ein wenig zu brilliant und dünn. Bis Evans auf Bitten der Gäste in die Tasten griff und dem Instrument auf scheinbar magische Weise den für ihn typischen, edlen, warmen und ausgewogenen Bill Evans Sound entlockte.

Umgekehrt hatte ich einmal die Gelegenheit, für einige Minuten auf Tuck Andress’ Gibson L5 zu spielen, und obwohl sich das aus verständlichen Gründen sehr gut anfühlte und Tuck auch sehr wohlwollend kommentierte, wurde mir überdeutlich bewusst, dass seine unnachahmliche Art zu spielen zum größten Teil nicht seiner Gitarre zuzuschreiben ist.

Wunderschöne Musik, virtuos und mit viel Seele gespielt, kann auch dann, wenn sie mit einem 100 Euro Handheld Recorder aufgenommen wurde, begeistern. Seit jedoch früher für Normalsterbliche unerschwingliche Studiotechnik mehr und mehr im Homerecordingbereich Einzug gehalten hat, haben viele Musiker zusätzliche Ambitionen als Toningenieure entwickelt. Leider sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine professionelle Aufnahme, nämlich ein gut klingender Raum und ausreichende Fähigkeiten in der Bedienung der Technik, immer noch genauso schwierig zu erlangen wie früher. Um ein guter Toningenieur zu werden, braucht man Training und Erfahrung, und für uns Musiker kann das bedeuten, dass man vor die Entscheidung gestellt wird, ob man ein durchschnittlicher Musiker bleiben und darüberhinaus ein durchschnittlicher Toningenieur werden möchte, oder ob man in einer der beiden Tätigkeiten richtig gut werden will.

Und was das Ganze noch schwieriger macht: ohne einen gut klingenden Raum und ein gut klingendes Monitorsystem ist es fast unmöglich, ein guter Toninenieur zu werden. Und während ein gutes Monitorsystem zwar teuer aber noch erschwinglich ist, ist ein gut klingender Raum in den meisten Musikerwohnungen schlicht nicht vorhanden. Klar gibt es Menschen, die ein großes Zimmer mit hoher Decke haben, das deutlich länger als breit ist, möglichst keine Fenster hat, und das sie nicht anderweitig nutzen müssen. Für die meisten von uns bleibt das ein Traum.

Und so geben wir weiter unser Geld für Mikros, Preamps, Audio Interfaces und Plugins aus, ohne das diese Dinge einen entscheidenden Einfluss auf das erwünschte Gesamtergebnis haben können. Oder wir meditieren einfach in Zukunft ein wenig öfter über die wirklich wichtigen Dinge in der Musik, statt immer wieder von neuem der Lüge vom Glück durch Konsum aufzusitzen.

Meine Gearlust ist jedenfalls vorläufig wieder abgeklungen. Wie wär’s stattdessen mit einem genossenschaftlich organisierten Tonstudio? Wer macht mit?

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