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Der verantwortungslose Gott

Yuval Noah Hararis Eine Kurze Geschichte der Menschheit ist ein Dokument der Ratlosigkeit der Geisteswissenschaft im Angesicht der Technokratie
Veröffentlicht am 03.06.2017, ungefähr 700 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 3 Minute(n).
Tags: #buchbesprechung

Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?

Mit diesem Satz endet Yuval Noah Hararis Bestseller Eine Kurze Geschichte der Menschheit, und die ‘Götter’, um die es in dem als Frage getarnten Urteil geht, sind wir. Seltsam. Ich fühle mich so überhaupt nicht wie ein Gott. Mein linkes Knie schmerzt noch von der Blessur, die ich mir vorgestern beim Kampf mit einer Ikea-Kommode zugezogen habe. Gerne hätte ich diese Kommode einfach so aus dem Nichts erschaffen. In Wirklichkeit habe ich fast zwei Stunden gebraucht, um die hundert komplett vorgefertigten Einzelteile nach einer detaillierten und dennoch kryptischen Anleitung zusammenzufügen. Macht fühlt sich anders an.

Der vierte Teil des Buches erzählt die Geschichte der wissenschaftlichen Revolution als eine Geschichte des zunehmenden Machtgewinns für die Menschheit. Dass dieser Machtgewinn gelinde gesagt nicht ganz gleich verteilt ist, verschweigt Harari dabei nicht. Als geschichtlicher Faktor jedoch spielt das Streben nach Macht in seinem Buch keine Rolle. Das ist eine merkwürdige Lücke, vor allem für einen, der bei Wikipedia u.a. als Militärhistoriker beschrieben wird.

Auch an anderen Stellen hinterlässt das Buch einen eher unbefriedigenden Eindruck. Der erste Teil über die “kognitive Revolution” lässt sich leicht in einem Satz zusammenfassen: über die Menschen der Vorgeschichte wissen wir fast nichts. Natürlich ist das nicht Hararis Schuld, und seine Spekulationen darüber, wie die Gesellschaften der Ur-Menschen ausgesehen haben könnten, sind teilweise durchaus lesenswert.

Am amüsantesten finde ich die These, die Sesshaftwerdung des Menschen zu Beginn des Neolithikums könne auch als Prozess der Domestizierung des Menschen durch den Weizen verstanden werden. Dieser habe sich, dadurch, dass er sich den Menschen als Nahrungsmittel andiente und ihn Stück für Stück von sich abhängig machte, einen fantastischen Evolutionsvorteil gesichert. Diese Interpretation sollten vor allem diejenigen Ernst nehmen, die sonst auch rein evolutionstheoretische Erklärungen für die Eigenschaften menschlicher Kulturen akzeptieren.

Die letzten Kapitel des Buches lesen sich ein bisschen wie ein Querschnitt aus verschiedenen populärwissenschaftlichen Artikeln und Feulletonbeiträgen der letzten Jahre. Es wimmelt nur so von wiedergeborenen Neanderthalern, superintelligenten Conputergehirnen und bionisch modifizierten, genetisch optimierten, unsterblichen Zukunftsmenschen. Man hat das Gefühl, das alles schon mehr als einmal gelesen zu haben. Zum Verständnis der gegenwärtigen Lage des Menschen trägt es meiner Ansicht nach nicht viel bei, u.a., weil die wissenschaftlichen Grundlagen, auf denen diese Projektionen aufbauen, höchst umstritten sind. So hat sich z.B. die noch vor einigen Jahren gängige Annahme, die Erforschung des menschlichen Genoms würde uns gegen alle Krankheiten ein Mittel in die Hand geben, inzwischen als falsch erwiesen. Und ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, mit Computercode eine menschenähnliche Intelligenz zu erzeugen, wird von vielen Experten bezweifelt.

Doch natürlich passt das alles gut zu der Geschichte von den Tieren, die zu Göttern wurden, ohne jedoch das Glück zu finden. So, wie es geschrieben ist, kann das Buch nur zu diesem Schluss kommen.

Aber gibt es noch eine andere Möglichkeit? Ich meine, ja. Indem wir aufhören, die Verantwortung für die Geschichte der vergangenen Jahrtausende dem abstrakten Konzept einer “Menschheit” zuzuschieben, können wir erkennen, dass all die großen und kleinen Entwicklungen immer von einzelnen oder von Gruppen von Menschen wie Dir und mir losgetreten wurden. Wir können leicht erkennen, dass es wahnsinnig ist, Milliarden in die Erforschung von Terraforming auf fremden Planeten zu investieren, wenn das Geld dafür aus der Zerstörung des mit Abstand am besten für menschliches Leben geeigneten Planeten stammt. Genauso wahnsinnig wie die Versuche, maschinenunterstützte (Pseudo-)Übermenschen zu entwickeln, wenn deren Entwickler noch nicht einmal sich selbst verstehen. Dann können wir uns fragen, ob wir das alles mit uns machen lassen wollen. Ob es uns wirklich reicht, Ikea-Regale zusammenzubauen und von Zeit zu Zeit ein gruseliges Buch über “Die Menschheit” zu lesen.

Ingredients

A song about food, written during FAWM 2014
Veröffentlicht am 01.06.2017, ungefähr 100 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 1 Minute(n).
Tags: #musik #video

Seit 10 Jahren nehme ich jeden Februar an einem Online-Challenge namens “February Album Writing Month”, kurz FAWM teil. Die Aufgabe besteht darin, innerhalb eines Monats 14 komplette Stücke Musik zu komponieren und aufzunehmen. Da hat sich über die Jahre einiges angesammelt. Ich habe mir vorgenommen, eine Auswahl der Songs, die ich für FAWM geschrieben habe, live und ohne technischen Schnickschnack aufzunehmen.

Dies ist der erste, und es werden hoffentlich viele weitere folgen.

In 30 Sekunden

About Axel in 30 Sekunden
Veröffentlicht am 26.05.2017, ungefähr 100 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 1 Minute(n).
Tags: #axel

Axel mit Rose

Ich werde Axel genannt. Oder Alex. Oder Alexander. Ich unterrichte Alexandertechnik, die ein anderer Alexander erfunden hat. Daneben arbeite ich als Projektmanager im IT-Bereich. Ich spiele Gitarre, und manchmal singe ich auch dazu. Computer faszinieren mich, aber Menschen noch viel mehr. Insbesondere die Regeln und Mythologien, mit denen sie ihr Denken und Handeln organisieren, und wie sie lernen können, ihr Leben und ihr Zusammenleben zu verbessern.

Ihr findet mich nicht auf Facebook, Instagram oder Twitter.

Von Rockstars, Enden und Anfängen

Mein erster Post. Über das Ende einer Ära und den Anfang einer neuen.
Veröffentlicht am 19.05.2017, ungefähr 900 Wörter, zum Lesen benötigte Lebenszeit ca. 5 Minute(n).
Tags: #musik #essay #video

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Es ist wohl nur ein trauriger Zufall. Einen Tag bevor dieser Blog, in dem ich in erster Linie meine Musik vorstellen möchte, online gehen sollte, ist eines der Idole meiner Jugend, Chris Cornell, gestorben. In Detroit, der Stadt, wo vor drei Wochen meine Nichte geboren wurde. Aber Zufall ist langweilig und sinnlos. Und was wir alle suchen ist Sinn. Darum werde ich versuchen, ein bisschen Sinn zu konstruieren. Und darum sind diese Gedanken Chris und Charlotte gewidmet.

Jugendträume

Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem ich Chris Cornell zum ersten Mal sah und hörte. Es war zur Zeit meines Zivildienstes. Mit meiner Aufgabe, einen doppelt beinamputierten Schlaganfallpatienten, der überdies nicht sprechen konnte, allein zu pflegen und zu betreuen, war ich hoffnungslos überfordert. Abgesehen davon, dass ich nicht wirklich wusste, was ich tun sollte, passten die Krankheit und das Leiden, deren Zeuge ich wurde, so überhaupt nicht zu meinen Träumen von Freiheit und Abenteuer, die ich, nachdem ich die Schulzeit abgesessen hatte, jetzt endlich verwirklichen wollte. Ich wollte Rockstar werden. Was machte ich hier?

Während einem der wenigen ruhigeren Momente schaltete ich den Fernseher an und blieb beim Zappen auf MTV hängen. Was ich hörte war Krach. Ein markerschütternder und aufpeitschender Krach, der nach einer Minute zuerst in ein dunkel-treibendes Riff und dann in einen Rausch von einem Song mündete, mit einer Stimme, die extremer war, als als alle Stimmen, die ich bis dahin gehört hatte.

Damals hatte ich noch keine Ambitionen als Sänger, sondern übte pausenlos Gitarre, um meine Rockstarambitionen als Instrumentalist verwirklichen zu können. Hauptsächlich war es der chronische Mangel an akzeptabel singenden Mitmusikern, der mich in den frühen 90ern dazu brachte, es auch einmal mit der Stimme als Instrument zu versuchen. Das erforderte Mut. Wenn Du singst, kannst Du es nicht vermeiden, einen Teil Deines Innersten zu offenbaren. Damit habe ich selbst heute noch Probleme. Damals waren meine Schüchternheit und Unsicherheit fast unüberwindbar.

Dass ich damals Bands wie Nirvana und Red Hot Chili Peppers entdeckte, war ein Glück. Diese Bands hatten völlig unvirtuose Sänger, und so war es selbst mir möglich, die Songs zu singen und dabei nicht wie ein Vollidiot rüberzukommen (naja, vielleicht ist Letzteres nur Einbildung).

Cornell spielte in einer anderen Liga. Er und später Jeff Buckley waren Sänger, deren Songs ich rauf- und runtergecovered hätte, wäre meine Stimme nur dazu in der Lage gewesen. Was hätte ich damals dafür gegeben, einem Publikum einen Song wie Jesus Christ Pose vor den Latz knallen zu können, ihm eine Packung purer Magie zu verabreichen, wie es nur Leute können, deren Ausdrucksmöglichkeiten nicht von mangelnder Technik gehemmt werden. Was Steve Vai auf der Gitarre für mich war, war Chris Cornell als Sänger: einer, für den sein Instrument nicht Fitnessstudio oder Kampfzone, sondern ein Spielplatz war.

Das Ende der Rockstars

Mit der Musik Chris Cornells verbinde ich noch viele andere persönliche Erinnerungen. Aber seitdem ich von seinem Tod las, sind auch allgemeinere Gedanken aufgetaucht.

Als vor einige Jahren die Online-Musikdistribution zum Mainstream wurde und die meisten Menschen - mich eingeschlossen - aufhörten CDs zu kaufen, läutete das das Ende des Musik-Albums als Format ein. Ich war damals vermutlich nicht der einzige, dem die Idee kam: wenn sich fast niemand mehr Alben kauft, gibt es für die großen Labels keinen Grund mehr, in die Karrieren von Musikern zu investieren. Songs gibt es wie Sand am Meer und gutaussehende Menschen, die singen können, lassen sich auch immer finden. Ein gutes Album zu produzieren ist hingegen aufwändig. Musiker müssen einige Jahre reifen, bevor sie Musik schreiben, die relevant ist. Und Labels brauchen einen finanziellen Anreiz, um Musiker über Jahre hinweg weltweit zu promoten. Dieser Anreiz ist weg. Ergo: es wird bald keine Rockstars mehr geben.

Heute Nachmittag scheint es mir so, als ob dieser Prozess geradezu unnatürlich schnell vonstatten gehen würde. Das letzte Jahr hat beinahe die halbe Rock ‘n’ Roll Hall of Fame hinweggerafft, und seit gestern gibt es einen weiteren Rockstar weniger. Getreu dem alten Klischee von den am hellsten strahlenden Lichtern, die am frühsten ausbrennen, scheint es der Rock eiliger damit zu haben als der Jazz, eine historische Musik zu werden.

Was kommt danach?

Die Ära der Rockstars hat uns viel großartige Musik beschert. Und doch basierte sie auf einem irgendwie ungesunden System der Umwandlung von Jugendträumen in Konzernprofite. Das Internet hat dieses System zerstört und uns ein neues, besseres System versprochen, in dem Musiker und Publikum ohne den Umweg über mächtige Gatekeeper zueinander finden können. Heute scheint es, als ob das Internet als kommerzielle Plattform eine Maschine der Machtkonzentration geworden ist. Bandcamp, Soundcloud und Co sind ok, aber “so richtig” wird Musik fast nur noch über Spotify, Amazon und Apple verkauft. Dort haben Algorithmen die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu steuern. Und die Algorithmen dienen NICHT der Musik. Sie dienen dem Verkauf.

Und dennoch gibt es auch heute sehr viel gute Musik. Sie wird von Menschen gemacht, die zum Teil eine riesige Menge Arbeit investieren, um irgendwie davon leben zu können. Genauso wie zu allen Zeiten. Das Versprechen von Ruhm und ausverkauften weltweiten Tourneen jedoch verblasst.

Gestern ist Chris Cornell viel zu früh gestorben. Thanks, Chris, for bleeding your heart out in your music. An alle anderen, und an Charlotte, die ganz neu hier ist: Lasst uns zusammen Musik machen. Die Welt braucht das heute vielleicht mehr als je zuvor.

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